…der Weg zum eigenen ICH
Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer sein kann. Schlimmer noch, ich hätte nie gedacht, dass es überhaupt so weit kommen kann.
Ob ich eine schöne Kindheit hatte kann ich garnicht mehr sagen, ich weiss es wirklich nicht mehr. Ab und zu fallen mir vielleicht mal kleine Bruchstücke ein, aber keine ganzen Erlebnisse, dabei haben wir viel unternommen, als meine Schwester und ich aufgewachsen sind.
Meine Pubertät war dann sehr rebellisch. Aber auch das ist das Einzige, woran ich mich erinnern kann. Ich denke ich habe das Meiste verdrängt – ich wäre gespannt, was ein Psychologe dazu sagen würde….
Ich habe immer versucht es allen Recht zu machen ( bis auf die kurze Zeit meiner Pubertät natürlich). Ich wollte immer irgendwie dazugehören, mit dabei sein, ein Teil von einer Clique sein.
Und auf diesem“Weg“ habe ich meine eigene Stimme verloren, mein Rückrat.
Egal was andere toll fanden, ich fand das auch super. Ich habe nie gewusst, was ich wirklich möchte.
Es war egal, ob es um Klamotten oder Musik ging, oder was auch immer…..
Wenn meine Eltern nicht gesagt hätten mach Dein Abitur, ich wäre auch nach der 10’ten abgegangen und hätte eine Ausbildung zur Goldschmiedin gemacht – denn das war damals wirklich etwas, was ich wollte.
„Ach Kind, was willst Du denn damit, da verdienst Du doch nichts.“
OK?
Also quälte ich mich durchs Abitur.
Und dann? Ich hatte keine Ahnung.
80 % aus meinem Jahrgang studierten damals BWL….
Also nahm sich meine Mutter das dicke rote „Beruf aktuell“ zur Hand und fing bei A an….
bei Z hatten wir dann beide die Schnauze voll,
also machte ich eine Ausbildung zur Zahntechnikerin. WOW…
Nach 3,5 Jahren war auch das überstanden und, was soll ich sagen, ich kann mich kaum an diese Zeit erinnern, an die Abschlussprüfung schon garnicht!
Nach der Ausbildung wurde ich nicht übernommen, also, was tun. Meine Eltern nahmen mich unter ihre Fittiche und ich machte ein Praktikum im Krankenhaus. Dann stand es fest…ich studierte Zahnmedizin…
Was soll ich sagen, nach dem 4. Semester habe ich mich exmatrikuliert. Es war definitiv nicht meins! Zoologie, Physik, Chemie….bitte nie wieder!
Das einzig Coole in dem Studium war der Pathologiekurs ♥
Meine Eltern waren total enttäuscht und mein Vater traute sich kaum seinen Freunden zu sagen, dass ich es „nicht geschafft“ habe…
„Du musst doch aber wissen, was Dich wirklich interessiert?!“
NEIN! Woher denn? Wie geht das?
Ohne Witz, ich wusste es wirklich nicht, ich hätte mir das Hirn zermatern können. Ich habe es nie geschafft eine eigene Meinung zu entwickeln….
Gruselig die Vorstellung!
Nach dem abgebrochenen Studium bin ich dann im klassischen Einzelhandel gelandet. Eigentlich völlig verkehrt für mich, denn ich habe nie den Mund aufbekommen…
Aber siehe da, dieser erste Job, von dem ich keine Ahnung hatte, hat mich komplett verändert. Ich hatte Spaß an und bei der Arbeit. Ich habe Alles gegeben. Ich wurde offener und lockerer, ich liebte den Umgang mit Kunden und die Kunden liebten mich.
Ich fing endlich an mich zu entwickeln mit 26.
Aber glaub nicht, dass das auch den Zeitpunkt meiner Abnabelung war…
Ich wohnte zwar nicht mehr zu Hause, auch nicht mehr in der gleichen Stadt. Aber ich stand immer noch unter dem Einfluss meiner Eltern. Ich bin bis zu meinem 40 Lebensjahr jedes Jahr mit meinen Eltern in den Urlaub gefahren – jedes Jahr!
Ob ich keine Freunde hatte? Oh doch, natürlich. Aber diese Freunde hatten Ihr eigenes Leben. Sie wussten, wie sie Ihre Freizeit gestalten konnten und taten dies.
Sie alle sind verheiratet, haben Kinder, haben Ihr Studium abgeschlossen, haben Ihre Träume gelebt….
Aber ich konnte mich nie gegen meine Eltern durchsetzen, denn sie wussten genau wie ich all die Jahre getickt habe. Und so denken sie, ticke ich noch heute.
Vielleicht hatte ich auch einfach Angst. Wovor? Vor dem Versagen! Was sollen denn die Anderen denken?
Selbst heute noch, meine Mutter ruft jeden Sonntag an, sollte ich mal nicht ran gehen, heisst es gleich, „was war denn mit Dir wieder los?“
Aber wie sollten sie auch meine mittlerweile bestehende Eigenständigkeit verstehen & akzeptieren, wo ich doch Jahre / Jahrzehnte lang unselbständig war?
Wenn ich noch an die schlimmen Sonntage denke, an welchen ich stets zu hause sass, weil ich nichts mit mir anzufangen wusste.
„Liess doch mal ein Buch, oder geh raus, es ist so schönes Wetter…“
Sie haben es ja weiss Gott versucht.
Also fingen Sie an mich regelmässig zu besuchen. Egal in welcher Stadt ich auch gerade lebte….sei es Hannover, Hamburg oder jetzt auch hier auf Sylt. Sie kommen, mal für ein langes Wochenende oder auch für eine ganze Woche.
Manchmal komme ich mir vor wie unter „Aufsicht“ auch wenn es meine Eltern bestimmt nicht so meinen. Aber hey, ich bin mittlerweile 42. Und auch, wenn ich noch nicht weiss, wo mich mein zukünftiges Leben hinführt, so kann ich doch ziemlich gut für mich alleine Sorgen.
Ich habe eine sehr schöne Wohnung einen sehr guten Job, ein gut gefülltes Bankkonto….
Ich bin endlich mit mir und meinem Aussehen zufrieden….
Weisst Du was meine schönste Zeit war?
Als ich 6 Monate auf der AIDA gearbeitet habe. Arbeit rund um die Uhr, meine Eltern Meilenweit weg, Telefonate nur ganz selten…In dieser Zeit war ich frei und so glücklich wie lange danach und davor nicht mehr…
Vielleicht sagst Du jetzt, mensch, sei froh, dass Du noch Eltern hast. Und ja, das bin ich auch! Aber ich hätte doch gerne Eltern, die mir vertrauen & meine Pläne spannend finden…
Denn wie sie auf meine momentanen Pläne reagieren, kannst Du Dir ja vorstellen! Es reicht ein kleiner Satz oder eine Frage und ich fühle mich total verunsichert….ich kann es immer kaum glauben, wenn ich hinterher darüber nachdenke, wie schnell ich mich in die Enge treiben lasse.
Auch heute am Telefon wieder, „Amina, da ist ein Brief von deiner Versicherung gekommen, Du willst die doch nicht kündigen, überleg doch mal….!“
Nein, sag ich, die ist nur auf Eis gelegt für ein paar Monate….
Ich schaffe es einfach nicht ihnen vor den Kopf zu stossen. Lieber lebe ich mein Leben so, wie sie es für mich erdacht haben….
Wenn sie etwas mit mir zusammen unternehmen wollen und ich sage, ne, macht das mal alleine, heisst es nur „Was ist denn jetzt schon wieder los? Stell Dich nicht so an.“
Jetzt zu meinem 42 Geburtstag habe ich mir zwei Tage frei genommen um mit meinen Eltern nach Helgoland zu fahren und danach ins Emil Nolde Museum…
Du glaubst wirklich, dass das meine Idee war?
Meine lieben Kollegen haben sich nicht mehr eingekriegt….
Ich habe noch nicht den richtigen Ansatz gefunden, ohne ihnen schreiend klarzumachen, dass das hier mein Leben ist!
Das ich erwachsen bin!
„Anscheinend ja nicht, wenn wir sehen, was Du vorhast!“
Bums….das geht nur so, Tag ein Tag aus. Da muss man ja eine Persönlichkeitsstörung entwickeln.
Selbst mein Freund sagt, wir sollten uns lieber trennen, wenn deine Eltern mich nicht mögen…
WAAAAS?
Jetzt der auch noch….aber was soll ich mit einem Freund, der mich nicht unterstützt, der nicht bereit ist für mich und eine gemeinsame Zukunft zu kämpfen?
Ganz ehrlich es ist wirklich mit Abstand das Beste, jetzt die Koffer zu packen, mich nicht umzudrehen und mich verdammt noch mal nicht verunsichern zu lassen!
Der Prozess der jetzt endlich beginnt heisst ABNABELUNG – eigentlich direkt nach der Geburt angelegt. Ich bin also extrem spät dran!
Ganz ehrlich, ich habe Euch lieb, von ganzem Herzen! Aber
DAS HIER IST MEIN LEBEN!
Und es wird endlich Zeit es zu leben, mit allen Erfahrungen und Risiken, die zum Erwachsen sein dazugehören.
An alle Eltern da draussen….ich weiss, dass ihr Eure Kinder liebt und das Ihr Euch Sorgen um Eure Kinder macht ♥, aber unterstützt Eure Kinder in der Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit, lasst sie ziehen und ihre eigenen Wege gehen…sie werden es Euch ewig danken!
grins…ich komm auch mal nach sylt…so für ne Woche…oder zwei…oder drei…Hauptsache ich kann mit deinen Eltern Kaffee trinken 🙂
Hallo „Du“, ach nennen wir Dich doch mal spasseshalber Ray, da werden sich meine Eltern bestimmt freuen…..schmunzel
Manchmal bietet das Ende Welt Lösungen, die man vorher nicht auf dem Schirm hatte…
Abnabeln geht leider nicht, ohne das man Menschen, die man liebt, auch mal vor den Kopf stößt. Das tut weh, aber das was du dir seit Jahrzehnten antust, hinterlässt viel schlimmere Narben!
Alles Gute und zusätzlich wünsche ich dir Kraft und den Mut der Verzweiflung
Es grüßt
DieReiseEule (gerade meinen Bericht veröffentlicht, wie ich dazu kam, mein Leben auf den Kopf zu stellen, falls du mal reinlesen willst)
Hallo liebe ReiseEule, ganz lieben dank für Deine Worte. Ich werde gleich mal bei Dir vorbeischauen – auf Deinem Blog. LG von Sylt Amina
Ein sehr offener Bericht – Respekt für den Mut dazu. Und hey, es gibt 42 jährige welche noch zu Hause wohnen. – Da hast du immerhin schon den Schritt aus dem Elternhaus gemeistert!!
Für dich und deinen Freund solltest du dich aber abnabeln und dazu musst du deine Eltern wohl oder übel vor den Kopf stoßen…. Das tut weh und es tut umso mehr weh, je länge deine „vermeintliche“ Abhängigkeit noch dauert. Wenn du immer wieder auf das eingehst, was deine Eltern von dir wollen, bekommen Sie den Blickwinkel, dass du ohne Sie gar nicht klar kommst… Du fährst mit ihnen an deinem Geburtstag weg – und sie wollen nicht das du alleine bist und denken, dass du ohne sie keinen tollen Tag auf die Beine stellen kannst. Stattdessen könntest du auch sagen, du planst etwas mit deinem Freund zusammen zu unternehmen? Das ist am Anfang alles sehr schwer, aber wenn du es ihnen sachlich erklärst und du es wirklich willst, dann ist es auch jetzt noch möglich sein eigenes Leben zu führen. Und dann sind die Treffen mit den Eltern auch viel schöner, wenn sie auf einer freiwilligen Basis passieren. 🙂
Hallo, ja, das mit dem „weh tun“, muss ich noch lernen…aber ich bin seit diesem Jahr auf dem besten Wege. Zumindest ist meine neue Zukunft schon in meinem Bewusstsein angekommen und fest verankert. Der Schritt zur Umsetzung ist also jetzt angesagt…LG von Sylt Amina
P.S. Dein Blog ist toll, hab da eben ganz schön lange durchgestöbert….
Hallo Amy.
„Einsicht ist der erste Weg zu Besserung“. Und es ist nie zu spät. Klar denkst du, dass du vielleicht schon viel Zeit verpasst hast. Aber denk mal wie viel Zeit du noch vor dir hast und pack den Mut deine Einsicht in die Tag umzusetzen. Rede vielleicht auch offen mit deinem Freund, über deine Vergangenheit und wie schwer es dir fällt.
Oh, vielen Dank. Das freut mich, dass dir mein Blog gefällt 🙂
LG nach Sylt 🙂